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17.05.2022

Strengere Anforderungen an die Verdachtsberichterstattung?

Medien und Journalist/innen wollen und sollen aufdecken und aufklären, nicht nur über Tatsachen berichten. Wie jüngst in Sachen Luke Mockridge, Christoph Metzelder, Julian Reichelt oder Jerome Boateng beschäftigt die Berichterstattung über Vorwürfe, Verdächtigungen, strafrechtliche Ermittlungen oder Verfahren daher regelmäßig die Öffentlichkeit – und die Gerichte. Weil Journalist/innen dabei mitunter über Dinge berichten, die sich hinterher als falsch herausstellen können, sind die Anforderungen an eine solche Verdachtsberichterstattung unter Namensnennung zu recht hoch.

Unschuldsvermutung über alles?

Jüngst lassen Instanzengerichte jedoch die Tendenz erkennen, noch strengere Anforderungen zu stellen und Verdachtsberichterstattungen unter Namensnennung im Stadium strafrechtlicher Ermittlungen im Zweifel zu untersagen. Zentral und quasi übergeordnet rücken die Gerichte dabei häufig die für den Betroffenen streitende Unschuldsvermutung in den Mittelpunkt, versäumen es aber das öffentliche Interesse an der Berichterstattung vergleichbar zu gewichten. So untersagte das LG München eine namentliche Berichterstattung über eine Wirecard-Geschäftsführer, der als Kronzeuge weitgehend geständig ausgesagt hatte und für rund ein Drittel des Konzernumsatzes, ein Großteil davon aus Geschäften mit Drittpartnern, verantwortlich war. Eine Entscheidung die das OLG München in der Folge korrigierte.

Und was sagt der BGH?

Das höchste deutsche Zivilgericht, der Bundesgerichtshof (BGH), scheint sich einer solchen Verschärfung der Voraussetzungen der Verdachtsberichterstattung im Ermittlungsverfahren dagegen nicht anschließen zu wollen. In zwei neuen Entscheidungen verweist er zwar auf die für den Betroffenen streitende Unschuldsvermutung und die Gefahr, dass auch bei einem späteren Freispruch „etwas hängenbleibt“. Gleichzeitig benennt der BGH aber unverändert die bereits bekannten Voraussetzungen für die Zulässigkeit Verdachtsberichterstattung unter Namensnennung im Stadium des Ermittlungsverfahrens:

  1. Es besteht ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit (bzgl. Tat und Identität der Person), das über die reine Neugier oder Sensationslust hinausgeht.
  2. Es liegt ein Mindestbestand an Beweistatsachen vor, d.h. es bestehen hinreichende Anhaltspunkte für die Richtigkeit des Verdachts.
  3. Bei der Recherche wurden die journalistischen Sorgfaltspflichten eingehalten, insbesondere Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft, dem Betroffene Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, Kernpunkte seiner Stellungnahme wiedergegeben, wahrheitsgemäß berichtet.
  4. Die Darstellung ist ausgewogen und nüchtern, d.h. der Betroffene wird nicht vorverurteilt, entlastende Umstände werden mitgeteilt.

Eben diese strengen Voraussetzungen sollen – so kann man in diese Entscheidungen hineinlesen - eine Beeinträchtigung des Betroffenen minimieren und der Unschuldsvermutung Rechnung tragen. Sind sie eingehalten, ist eine Berichterstattung unter Namensnennung bei einem überwiegenden öffentlichen Interesse zulässig.

Konkretere Vorgaben des BGH zur Stellungnahmemöglichkeit

Konkretere und im Detail neue Vorgaben enthalten die beiden jüngsten Entscheidungen des BGH allerdings zu der Frage, inwieweit dem Betroffenen vor Veröffentlichung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist:

Die erste Entscheidung vom 16. November 2021 (Az. VI ZR 1241/20) betrifft eine Berichterstattung zum VW Diesel-Skandal, in der unter Namensnennung über einen hochrangigen Ex-VW-Manager berichtet wurde, dieser säße nun in Untersuchungshaft. Der BGH hält diese mangels Einholung einer Stellungnahme für unzulässig. Ein Medium dürfe sich der Einholung einer Stellungnahme nicht mit dem Argument entziehen, der Verdächtigte habe in Untersuchungshaft nicht kontaktiert werden können und es sei nur ein Dementi zu erwarten gewesen. Zum einen hätte der Kontakt über anwaltliche Vertreter oder die Familie gesucht werden können. Zum anderen sei auch ein im Artikel schließlich wiedergegebenes pauschales Dementi geeignet, einer Vorverurteilung entgegenzuwirken.

In seiner Entscheidung vom 22. Februar 2022 (Az. VI ZR 1175/20) äußert sich der BGH ebenfalls zur Stellungnahmemöglichkeit. Streitig war hier eine Berichterstattung über ein Betrugsstrafverfahren gegen einen Prominenten. Hier hält der BGH fest: Reagiert ein Betroffener auf die Aufforderung zur Stellungnahme mit der nachvollziehbaren Bitte um Fristverlängerung, könne dies nicht einfach ignoriert und im Artikel angeführt werden, der Betreffende habe sich auf Anfrage nicht geäußert. Vielmehr müsse eine solche Fristverlängerungsbitte beantwortet werden, etwa mit einer alternativen Fristsetzung oder einer Erläuterung zur Notwendigkeit der kurzfristigen Stellungnahme.

Praxis-Tipp:

Die vom BGH jüngst nochmals bekräftigten Voraussetzungen der Verdachtsberichterstattung geben Medien und Journalist/innen Leitlinien vor, wann und wie sie über mutmaßliche Straftaten und andere Vorwürfe berichten dürfen. Auf Basis dieser Grundsätze muss jedoch in jedem Einzelfall eine Bewertung stattfinden und eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen - dem öffentlichen Informationsinteresse und den Interessen des Betroffenen - vorgenommen werden. Hierbei stehen wir Ihnen mit professioneller Beratung gerne zur Seite.

Im Vorfeld der Berichterstattung sollte besonderes Augenmerk darauf liegen, dem Betroffenen ordnungsgemäß Gelegenheit zur Stellungnahme zu allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu geben. Ansonsten droht die Untersagung der Berichterstattung schon aus diesem – eher formalen - Grund. Entbehrlich ist dies nur in absoluten Ausnahmefällen, etwa wenn der Betroffene bereits erklärt hat, sich zu den konkreten Vorwürfen öffentlich nicht zu äußern oder dies bereits umfassend getan hat. Dass lediglich ein pauschales Dementi zu erwarten oder die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme erschwert sind, lässt das Erfordernis der Stellungnahmemöglichkeit nicht entfallen. Auch sollte auf Fristverlängerungsbitten des Betroffenen angemessen reagiert werden.

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