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21.03.2023

EU verlängert Übergangsfristen für MDD-Zertifikate und -Konformitätserklärungen erheblich

Änderung der Medizinprodukteverordnung (MDR) und der In-Vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDR) am 20. März 2023 in Kraft getreten

Am 20. März 2023 wurde die Verordnung (EU) 2023/607 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2023 im Amtsblatt der EU veröffentlicht und ist damit in Kraft getreten. Diese Verordnung enthält wichtige Änderungen der Medizinprodukteverordnung 2017/745 (MDR) und der In-Vitro-Diagnostika-Verordnung 2017/746 (IVDR), die bei vielen Unternehmen der Branchen für ein Aufatmen sorgen dürften: Mit der Änderungsverordnung wurden nämlich – wie ersehnt und erwartet – endlich die Übergangsfristen für die Fortgeltung von Zertifikaten und Konformitätserklärungen nach der Medizinprodukte-Richtlinie 93/42/EWG (MDD) signifikant verlängert.

Das Problem: Zu kurze Übergangsfristen für zu viele Medizinprodukte bei zu geringen Kapazitäten der Benannten Stellen

Obwohl sich viele Unternehmen frühzeitig um eine Konformitätsbewertung und Zertifizierung ihrer Produkte nach der MDR bzw. IVDR bemühten, kamen diese Bemühungen oft – ohne Verschulden der Unternehmen – nicht voran: Zuerst bestand nämlich das Problem, dass die Benannten Stellen erst selbst nach den neuen Vorschriften zertifiziert werden mussten, bevor sie Konformitätsbewertungen nach den neuen Regelungen vornehmen konnten. Da sich diese Verfahren hinzogen, dauerte es sehr lange, bis überhaupt Benannte Stellen existierten, an die sich die Unternehmen wenden konnten.

Selbst als dann nach und nach die Benannten Stellen über die erforderliche Zertifizierung verfügten, standen viel zu wenige dieser Stellen bereit, um die große Zahl von Unternehmen zu betreuen, die Konformitätsbewertungen und Zertifizierungen für all ihre Produkte anstrebten. Viele Benannte Stellen nahmen überhaupt keine Neukunden mehr an. Und selbst diejenigen Unternehmen, die bereits langjährige Vertragsbeziehungen zu ihren Benannten Stellen unterhielten, wurden von diesen vertröstet oder bekamen noch nicht einmal eine Rückmeldung dazu, wann mit einer Durchführung der Konformitätsbewertungsverfahren nach der MDR bzw. der IVDR gerechnet werden konnte. Dass die Benannten Stellen gleichzeitig oft unter einem Mangel qualifizierter Fachkräfte litten, tat sein Übriges.

Für viele Unternehmen bedeutete dies: Das Ende der Übergangsvorschriften nach der ursprünglichen Fassung der MDR für bestehende Zertifizierungen nach der MDD rückte näher, und es war nicht abzusehen, ob und ggf. wann sie eine Zertifizierung nach dem neuen Recht erhalten würden. Die Unternehmen hatten keinerlei Planungssicherheit und zahlreichen – mitunter lebenswichtigen – Medizinprodukten drohte nach Ablauf der bisherigen Übergangsvorschriften ein Verbot des Inverkehrbringens.

Aus unserer Sicht nicht zutreffend ist daher die Darstellung in Erwägungsgrund 4 Satz 2 der Verordnung (EU) 2023/607, „zahlreiche Hersteller, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen“ seien „offenbar nicht ausreichend vorbereitet, um die Einhaltung der Anforderungen der Verordnung (EU) 2017/745 nachzuweisen“. Damit werden unseres Erachtens zu Unrecht die Hersteller für die drohenden Versorgungsengpässe verantwortlich gemacht. Wir haben vielmehr die Erfahrung gemacht, dass auch KMUs durchaus von Beginn an intensiv daran gearbeitet haben, die MDR-Anforderungen zu erfüllen und ein Konformitätsbewertungsverfahren nach der MDR durchzuführen. In den allermeisten Fällen scheiterte eine rechtzeitige MDR-Zertifizierung jedoch daran, dass die Gesamtkapazität der Benannten Stellen noch immer nicht ausreicht, um die Neuzertifizierung vor dem Ablauf der bisherigen Übergangsfristen vorzunehmen – was die EU-Institutionen in Erwägungsgrund 4 Satz 1 gleichzeitig (und insoweit im Widerspruch zum Satz 2) einräumen.

Die EU gibt nach: Die lange ersehnte Verschiebung der Übergangsvorschriften

Nachdem sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene die Rufe nach einem MDR-Moratorium immer lauter wurden und zahlreiche Verbände unter Verweis auf noch nie da gewesene Versorgungsengpässe mit Medizinprodukten Alarm schlugen, hatten die EU-Institutionen schließlich ein Einsehen: Die Europäische Kommission schlug eine Änderung der MDR vor, die im Wesentlichen eine deutliche Verlängerung der Übergangsvorschriften in Abhängigkeit von der Risikoklasse der Medizinprodukte vorsieht. Das Europäische Parlament stimmte dem Kommissionsvorschlag am 16. Februar 2023 zu und der Europäische Rat beschloss die Änderung am 7. März 2023. Die auf diese Weise zustande gekommene Änderungsverordnung 2023/607 wurde am 15. März 2023 verabschiedet und trat mit der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU am 20. März 2023 in Kraft.

Die neuen Übergangsvorschriften im Einzelnen

Die Verordnung (EU) 2023/607 sieht durch eine Anpassung von Art. 120 der MDR folgende neue Übergangsvorschriften vor, in denen Zertifikate, die ab dem 25. Mai 2017 gemäß der MDD ausgestellt wurden und am 26. Mai 2021 noch gültig waren, ungeachtet ihres Ablaufdatums weiterhin gültig bleiben:

  • maßgefertigte implantierbare Produkte der Klasse III: bis zum 26. Mai 2026 (Art. 120 Abs. 3f MDR);
  • Produkte der Klasse III und implantierbare Produkte der Klasse IIb, mit Ausnahme von Nahtmaterial, Klammern, Zahnfüllungen, Zahnspangen, Zahnkronen, Schrauben, Keilen, Zahn- bzw. Knochenplatten, Drähten, Stiften, Klemmen und Verbindungsstücken: bis zum 31. Dezember 2027 (Art. 120 Abs. 3a lit. a MDR);
  • Andere Produkte als die vorstehenden Produkte der Klasse IIb, Produkte der Klasse IIa und Produkte der Klasse Is (sterile Medizinprodukte der Klasse I), oder Produkte der Klasse I mit Messfunktion: bis zum 31. Dezember 2028 (Art. 120 Abs. 3a lit. b MDR).
  • Produkte, für die das Konformitätsbewertungsverfahren gemäß der MDDnicht die Mitwirkung einer Benannten Stelle erforderte und für die die Konformitätserklärung vor dem 26. Mai 2021 ausgestellt wurde, und für die nach der MDR ein Konformitätsverfahren unter Mitwirkung der Benannten Stelle erforderlich ist: bis zum 31. Dezember 2028 (Art. 120 Abs. 3b MDR).

Ist das Zertifikat allerdings vor dem 20. März 2023 abgelaufen, gelten die neuen Übergangsvorschriften nur dann, wenn

  • vor Ablauf des Zertifikats ein Vertrag mit einer Benannten Stelle über eine MDR-Zertifizierung des Produkts oder eines Nachfolgeprodukts abgeschlossen wurde (Art. 120 Abs. 2 Unterabsatz 2 lit. a MDR); oder
  • eine zuständige Behörde eines Mitgliedsstaats (Deutschland: BfArM) eine Ausnahme (Sondergenehmigung) nach Art. 59 Abs. 1 MDR gewährt hat (Art. 120 Abs. 2 Unterabsatz 2 lit. b Alt. 1 MDR); oder
  • eine zuständige Behörde eines Mitgliedsstaats (Deutschland: BfArM) das weitere Inverkehrbringen trotz fehlender Zertifizierung und nach Fristsetzung zur Durchführung eines Konformitätsbewertungsverfahrens nach Art. 97 Abs. 1 MDR gestattet (Art. 120 Abs. 2 Unterabsatz 2 lit. b Alt. 2 MDR).

Achtung: Die neuen Fristen sind an Bedingungen geknüpft!

Die neuen Übergangsvorschriften gelten allerdings nicht bedingungslos. Namentlich müssen die in Art. 120 Abs. 3c MDR aufgezählten Anforderungen erfüllt sein, damit Unternehmen sich auf die neuen Übergangsfristen berufen können:

  • Die Produkte entsprechen weiterhin der MDD bzw. der Richtlinie 90/385/EWG für aktive implantierbare medizinische Geräte (lit. a).
  • Die Auslegung und Zweckbestimmung der Produkte bleibt im Wesentlichen unverändert (lit. b).
  • Die Produkte stellen kein unannehmbares Risiko für die Gesundheit oder Sicherheit der Patienten, der Anwender oder anderer Personen oder für andere Aspekte des Schutzes der öffentlichen Gesundheit dar (lit. c).
  • Der Hersteller hat spätestens am 24. Mai 2024 ein Qualitätsmanagementsystem gemäß Art. 10 Abs. 9 MDR eingerichtet (lit. d).
  • Ebenfalls bis zum 26. Mai 2024 muss ein Konformitätsbewertungsantrag gestellt sein und bis zum 26. Mai 2024 muss ein Vertrag mit einer Benannten Stelle nach Anhang VII Abschnitt 4.3 Unterabsatz 2 MDR unterzeichnet sein (lit. e).

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dürfen Medizinprodukte mit MDD-Zertifizierung bis zum Ablauf der oben genannten, neuen Übergangsvorschriften weiter in Verkehr gebracht werden (Art. 120 Abs. 3 MDR).

Kein generelles MDR-Moratorium

Wichtig ist auch, dass die Verordnung (EU) 2023/607 keinen generellen Aufschub der MDR-Bestimmungen bedeutet. Am Gültigkeitsbeginn der MDR (26. Mai 2021) ändert die neue Verordnung nichts. Namentlich die Post-Market Surveillance und die Vigilanz müssen bereits seit dem 26. Mai 2021 den neuen Vorschriften entsprechen (vgl. Art. 120 Abs. 3d MDR). Auch das Qualitätsmanagementsystem muss bis spätestens 24. Mai 2024 auf die MDR-Vorgaben umgestellt werden (vgl. Art. 120 Abs. 3c lit. d MDR).

Was ändert sich bei In-Vitro-Diagnostika?

Die Übergangsverschriften für In-Vitro-Diagnostika (IVD) sind in Art. 113 Abs. 3 IVDR geregelt und wurden bereits mit der Verordnung (EU) 2022/112 gegenüber der ursprünglichen Fassung verlängert, um den Unternehmen und Benannten Stellen mehr Zeit zu geben. Daher sahen die EU-Institutionen kein Erfordernis einer erneuten Anpassung. Folglich wurden die nach Risikoklassen gestaffelten Übergangsvorschriften für IVD durch die Änderungsverordnung 2023/607nicht geändert. Nach wie vor gelten folgende Fristen:

  • IVD der Klasse D: 26. Mai 2025
  • IVD der Klasse C: 26. Mai 2026
  • IVD der Klasse B: 26. Mai 2027
  • IVD der Klasse A, die steril in Verkehr gebracht werden: ebenfalls 26. Mai 2027

Bisher galt für Produkte, die vor dem 26. Mai 2022 gemäß der IVDD rechtmäßig in Verkehr gebracht wurden, sowie für Produkte, die ab dem 26. Mai 2022 aufgrund einer Prüfbescheinigung in Verkehr gebracht wurden, die von einer Benannten Stelle nach dem 25. Mai 2017 gemäß der IVDD ausgestellt wurde, eine sog. „Abverkaufsfrist“ bis zum 27. Mai 2025, innerhalb der solche bereits in Verkehr gebrachten Produkte noch weiter auf dem Markt bereitgestellt oder in Betrieb genommen werden konnten. Gemäß Art. 2 Nr. 1 der Änderungsverordnung 2023/607 entfällt diese zeitliche Begrenzung der „Abverkaufsfrist“ nun, d.h. eine Bereitstellung auf dem Markt oder eine Inbetriebnahme solcher bereits in Verkehr gebrachter Produkte ist nun zeitlich unbegrenzt weiter möglich. Entsprechend wurde auch Art. 112 Abs. 2 IVDR angepasst.

Auswirkungen auf die Praxis: Was für Unternehmen jetzt wichtig ist

Hersteller von Medizinprodukten, die sich bisher bereits intensiv um die Umstellung auf die MDR-Vorgaben gekümmert haben und bei denen nur die Benannte Stelle der „Flaschenhals“ ist, können aufatmen: Die neuen Übergangsvorschriften sollten ihnen genügend Zeit geben, die bereits begonnenen Konformitätsbewertungsverfahren nach den neuen Vorschriften abzuschließen und die begehrte MDR-Zertifizierung für ihre Produkte rechtzeitig zu erhalten. Dies dürfte auf die meisten Hersteller zutreffen. Allerdings sollte sichergestellt werden, dass die Bedingungen nach Art. 120 Abs. 3c MDR eingehalten werden – sonst gelten die neuen Übergangsfristen nämlich nicht.

Wer sich allerdings in der Erwartung, die EU werde die Übergangsvorschriften ohnehin verschieben, bisher noch nicht um eine Neuzertifizierung gekümmert hat, dem bleibt nur noch ein gutes Jahr (bis 26. Mai 2024), das QM-System auf MDR umzustellen und den Konformitätsbewertungsantrag einzureichen. Da die MDR-Vorgaben komplex sind und viel Zeit in Anspruch nehmen können, ist für solche Unternehmen nun unverzügliches Handeln angezeigt.

Autor/innen

Oliver Stöckel

Dr. Oliver Stöckel

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