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26.04.2022

Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers bei der Realisierung von Zusatzurlaubsansprüchen schwerbehinderter Menschen

Schwerbehinderten Menschen steht bekanntlich gem. § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX ein Anspruch auf 5 Arbeitstage bezahlten Zusatzurlaub zu. Dieser Urlaubsanspruch entsteht unabhängig einer arbeitgeberseitigen Kenntnis von der bei Arbeitnehmer:innen bestehenden Schwerbehinderung.

Da auch der Zusatzurlaub dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG unterliegt, müssen Arbeitgeber:innen die bei ihnen beschäftigen Arbeitnehmer:innen ebenfalls - gegebenenfalls förmlich - eindeutig, rechtzeitig und unter Hinweis auf den Verfall des Urlaubs zum Endes des Urlaubsjahres oder Übergangszeitraums auffordern, diesen zu nehmen.

Mit dem am 30. November 2021 verkündeten Urteil (9 AZR 143/21) stellt das BAG nunmehr klar, unter welchen Voraussetzungen eine Ausnahme von der insofern gegebenen arbeitgeberseitigen Mitwirkungsobliegenheit besteht.

Der Sachverhalt

Zwischen dem Kläger und der Beklagten bestand seit dem 22. August 2016 ein Arbeitsverhältnis. Mit einem Grad der Behinderung von 50 v.H. gehörte der Kläger zum Personenkreis der schwerbehinderten Menschen. Hierüber setze er die Beklagte jedoch nicht in Kenntnis. Während der Dauer des Arbeitsverhältnisses hat die Beklagte den Kläger weder aufgefordert, Urlaub zu nehmen, noch hat sie ihn darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit Schreiben vom 3. Januar 2019 kündigte der Kläger das bestehende Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 15. Februar 2019 und forderte die Beklagte mit einem weiteren Schreiben erfolglos auf, ihm zwölf Arbeitstage Zusatzurlaub gem. § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX für den Zeitraum von 2016 bis 2018 zu gewähren.

Die Beklagte lehnte die Gewährung des Zusatzurlaubs ab und berief sich darauf, dass der Zusatzurlaub des Klägers bereits verfallen sei. Sie sei auch nicht verpflichtet gewesen, den Kläger dazu aufzufordern, den Zusatzurlaub zu nehmen, da dieser ihr den Umstand, dass er dem Kreis der schwerbehinderten Menschen angehöre, verschwiegen habe.

Die Entscheidung

Das BAG stellte in der o.g. Entscheidung unmissverständlich klar, dass es Arbeitgeber:innen unmöglich sei, der geforderten Mitwirkungsobliegenheit nachzukommen, wenn sie keine Kenntnis von der Schwerbehinderung der beschäftigten Arbeitnehmer:innen haben und diese auch nicht offenkundig ist. In diesem Fall verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub auch dann, wenn der/die Arbeitgeber:in der Hinweis- und Aufforderungspflicht nicht nachgekommen ist.

Das BAG führte in diesem Zusammenhang ferner aus, dass abstrakte Aufforderungen und Hinweise zum Urlaubsanspruch den Anforderungen an eine transparente Unterrichtung gerade nicht genügen könnten. Außerdem würden Arbeitgeber:innen grundsätzlich nicht veranlasst, vorsorglich auf einen etwaigen Zusatzurlaub hinzuweisen und den/die Arbeitnehmer:in aufzufordern, diesen gegebenenfalls wahrzunehmen.

Nach Ansicht des BAG müssten sich Arbeitgeber:innen trotz eines entsprechenden Fragerechts auch nicht bei den Arbeitnehmer:innen nach einer gegebenenfalls bestehenden Schwerbehinderung erkundigen. In dieser Hinsicht könne regelmäßig erwartet werden, dass die Schwerbehinderteneigenschaft mitgeteilt werden würde, wenn der/die Arbeitnehmer:in beabsichtigen würde, den Zusatzurlaub in Anspruch zu nehmen. Wird die Schwerbehinderteneigenschaft arbeitnehmerseitig verschwiegen, verfalle der Zusatzurlaubsanspruch gem. § 7 Abs. 3 BUrlG auch ohne die Wahrung der arbeitgeberseitigen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten, da der/die Arbeitgeber:in in diesem Fall den/die Arbeitnehmer:in nicht vorwerfbar von der Geltendmachung seiner/ihrer Rechte abhalten würde.

Die Praxis

Die vorliegende Entscheidung des BAG schafft im Hinblick auf den Zusatzurlaub i.S.v. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX (bis 31. Dezember 2017 § 125 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F.) ein Gleichgewicht zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen. Die Entscheidung gleicht den Umstand aus, dass der Zusatzurlaubsanspruch ohne arbeitgeberseitige Kenntnis von der arbeitnehmerseitigen Schwerbehinderung entsteht und stellt sicher, dass Arbeitnehmer:innen aufgrund der arbeitgeberseitigen Unkenntnis von der Schwerbehinderung nicht unbegrenzt Zusatzurlaub i.S.d. § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX anhäufen können.

Um Rechtsstreitigkeiten über die arbeitgeberseitige Kenntnis oder Nichtkenntnis von der arbeitnehmerseitigen Schwerbehinderung und damit auch über den Verfall des Zusatzurlaubsanspruchs vorzubeugen, empfiehlt es sich jedoch, dass Arbeitgeber:innen nach Ablauf der an § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX angelehnten Sechs-Monatsfrist von dem ihnen zustehenden Fragerecht nach einer Schwerbehinderung des/der Arbeitnehmer:in Gebrauch machen, da es nach der allgemeinen Darlegungs- und Beweislast dem/der Arbeitgeber:in obliegt, die Unmöglichkeit der Erfüllung seiner/ihrer Aufforderungs- und Hinweisobliegenheit zu beweisen.

Autoren: Bettina-Axenia Bugus-Fahrenhorst (Rechtsanwältin, Partnerin) und Maximilian Matthiesen (Wissenschaftlicher Mitarbeiter) 

Autor/innen

Bettina-Axenia Bugus-Fahrenhorst

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Partnerin

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