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17.10.2023

Bereichsausnahme Rettungsdienst/Gefahrenabwehr auch ohne ausdrückliches Hilfsorganisationsprivileg in NRW anwendbar!

Das OLG Düsseldorf hat bestätigt, dass die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst aus § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB auch ohne weiteren Umsetzungsakt im Landesrecht in NRW direkt anwendbar ist. Damit folgt das OLG Düsseldorf der Rechtsauffassung des OVG Nordrhein-Westfalen und hob den vorausgegangenen Beschluss der VK Westfalen vom 15.06.2022 (VK 1-20/22) auf, die mit Verweis auf die Rechtsprechung anderer Obergerichte noch ein sog. Hilfsorganisationenprivileg verlangte.

Sachverhalt

Die Stadt Kamen schrieb Rettungsdienstleistungen unter Anwendung der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr gem. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB aus. Konkret sollte mit der Ausschreibung die vorgesehene Vorhalteerweiterung umgesetzt werden. Der Leistungszeitraum war auf drei Jahre beschränkt. In Umsetzung der Bereichsausnahme verzichtete der Rettungsdienstträger auf eine europaweite Bekanntmachung. Die Antragsgegnerin forderte vielmehr vier Hilfsorganisation zur Abgabe eines Angebotes vor. Letztlich reichte lediglich die beigeladene Hilfsorganisation ein Angebot ein.

Nachdem die Antragstellerin (ein privates Rettungsdienstunternehmen) über die Presse davon erfuhr, reichte diese einen Nachprüfungsantrag bei der VK Westfalen ein. Ein privates gemeinnütziges Rettungsdienstunternehmen erfuhr davon über die Presse und beantragte bei der VK Westfalen Nachprüfung.

Die VK Westfalen entschied daraufhin mit Beschluss vom 15.06.2022 (VK 1-20/22), dass das bisherige Landesrecht der Bereichsausnahme in NRW entgegenstehe. Maßgeblich sei, dass § 13 RettG NRW den Träger nicht ermächtige, den Kreis der Beauftragten einseitig – zulasten rein Privater –  auf anerkannte Hilfsorganisationen zu begrenzen. Damit unterliege die Vergabe von Leistungen im Rettungsdienst dem Vergaberecht (§§ 97 ff. GWB). Das VG Gelsenkirchen (AZ: 15 L 743/22) vertrat in Bezug auf ein anderes Vergabeverfahren eine ähnliche Rechtsauffassung und schloss sich der in anderen Bundesländern ergangenen Rechtsprechung an.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des OLG Düsseldorf in der zweiten Instanz war vor diesem Hintergrund mit großer Spannung erwartet worden. Das OLG Düsseldorf hat – ähnlich wie zuvor das OVG NRW (B. v. 16.12.2022 – 13 B 839/22) – die Bereichsausnahme in Nordrhein-Westfalen auch auf Grundlage des bisherigen Landesrechts bestätigt. Nach Aufhebung des Beschlusses der VK Nordrhein-Westfalen verwies es die Sache an das örtlich zuständige VG Gelsenkirchen, vgl. § 17a Abs. 2 S. 1 GVG.

Das OLG Düsseldorf kam zu dem Ergebnis, dass der Rechtsweg zu den Nachprüfungsinstanzen aufgrund der Bereichsausnahme nicht eröffnet sei. Anders als von der Vorinstanz erhoben, bestünden vorliegend auch keine Bedenken gegen die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Diese sei insbesondere unionsrechtskonform. Das OLG verwies insoweit auf den Umstand, dass der EuGH in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2019 § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit dem Unionsrecht als vereinbar ansah und keine weitere Umsetzung im Landesrecht einforderte.

Nach Ansicht des OLG verstößt die Bereichsausnahme auch nicht gegen das Grundgesetz. Die Regelung ließe sich sowohl vor Art. 12 Abs. 1 GG als auch vor Art. 3 Abs. 1 GG mit Blick auf den staatlichen Schutzauftrag für das Grundrecht auf Leben und Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG legitimieren.

Unerheblich für die Anwendung der Bereichsausnahme seien im Übrigen die jeweiligem Marktverhältnisse, die dem Beschaffungsvorgang zugrunde liegen. Insbesondere sei die Bereichsausnahme nicht nur dann anwendbar, wenn auf dem konkreten sachlich und räumlichen relevanten Markt nur gemeinnützige Organisationen existierten.

Entscheidend für die Anwendung der Bereichsausnahme könne nur der Gegenstand des zu vergebenden Auftrages und die Auswahl des Bieterkreises durch den öffentlichen Auftraggeber sein. Demnach ermächtige die Bereichsausnahme den Träger, den Bieterkreis auf gemeinnützige Hilfsorganisationen zu beschränken.

Diesem Grundsatz steht nach Ansicht des OLG auch das Landesrecht entgegen. So könne die im Bundesgesetz festgeschriebene Befugnis zur Privilegierung der Hilfsorganisationen nicht durch eine landesrechtliche Regelung (hier: § 13 RettG NRW) aufgehoben werden. Hierzu fehle es dem Landesgesetzgeber an der Gesetzgebungskompetenz. Der Bund habe mit der Umsetzung der Bereichsausnahme im GWB von der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11, Nr. 16 und Nr. 1 GG) Gebrauch gemacht. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, dass die Länder über die Gesetzgebungskompetenzen für das Rettungsdienstwesen verfügen. Während § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB das Verfahren zur Beschaffung der rettungsdienstlichen Leistungen beträfe, stünde beim Landesrecht die Organisation der Rettungsdienste im Fokus.

Schließlich weist das OLG darauf hin, dass der Wortlaut des § 13 RettG NRW nicht zwingend vorsehe, gewerbliche Auftragnehmer gleichrangig zu berücksichtigen.

§ 13 RettG NRW lautet konkret:
„§ 13 Mitwirkung anerkannter Hilfsorganisationen und anderer Leistungserbringer (1) Der Träger rettungsdienstlicher Aufgaben kann die Durchführung des Rettungsdienstes unter Beachtung der Absätze 2 bis 5 auf anerkannte Hilfsorganisationen und andere Leistungserbringer durch öffentlich-rechtlichen Vertrag übertragen. […]“

Demnach könne die Durchführung des Rettungsdienstes auf anerkannte Hilfsorganisationen und andere Leistungserbringer übertragen werden. § 13 RettG NRW räume dem Auftraggeber eine Auswahlbefugnis ein. Auch weise der Landesgesetzgeber in der Gesetzesbegründung ausdrücklich darauf hin, dass § 13 RettG NRW nur die organisatorische Grundentscheidung regele, ob der Träger des Rettungsdienstes sich zur Aufgabenerfüllung Mitwirkung externer Personen oder Institutionen bedient (vgl. Gesetzesbegründung zu Nr. 13, Drs. 16/6088, S. 35).

Das OLG folgt damit nicht der Rechtsprechung der Obergerichte in Niedersachsen, Hamburg und Brandenburg. Diese hatten unter Berücksichtigung des jeweiligen Landesrechts die Bereichsausnahme nur dann eröffnet gesehen, wenn Trägern die Möglichkeit im Landesrecht ausdrücklich eingeräumt wird, den Kreis der Beauftragten nur auf Hilfsorganisationen zu begrenzen.

Zuvor hatte bereits das OVG Nordrhein-Westfalen eine ähnliche Auffassung vertreten und den Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO für eröffnet angesehen.

Auch nach Ansicht des OVG NRW steht die aktuelle landesgesetzliche Regelung der Anwendung der Bereichsausnahme nicht entgegen Einer expliziten landesgesetzlichen Privilegierung gemeinnütziger Organisationen oder Vereinigungen im Rettungsdienstgesetz bedürfe es nicht. Der Wortlaut des Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24/EU lasse die Anwendung der Bereichsausnahme auch mit der bestehenden Regelung in NRW zu. Maßgeblich sei dabei die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „erbracht werden“. Sowohl nach dem Sinn und Zweck, der Systematik und auch nach dem Wortlaut von Art. 10 Buchst. h der Richtlinie sei dabei auf das konkrete Vergabeverfahren abzustellen. Daneben habe der Landesgesetzgeber in der Gesetzesbegründung zu § 13 Abs. 1 RettG NRW klargestellt, dass ggf. einschlägiges Haushalts- und Vergaberecht durch die Vorschrift unberührt bleibe. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB beträfe höherrangiges Recht und ginge einer landesgesetzlichen Regelung daher vor.

Praxistipp

Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst ist Quell vieler Diskussionen und Verfahren. Nachdem seit 2009 Leistungen des Rettungsdienstes oft nach GWB ausgeschrieben worden sind, gab es umfassende Kritik an der Vergabepraxis. Diese mündete in besagte Bereichsausnahme, die 2014 in den EU-Vergaberichtlinien eingebaut wurde und 2016 durch die BRD in nationales Recht umgesetzt wurde.

Die Entscheidung des OLG sorgt nunmehr für Rechtsklarheit im Hinblick auf die Frage der Anwendbarkeit der Bereichsausnahme Rettungsdienst in Nordrhein-Westfalen. Öffentlichen Auftraggebern steht die Bereichsausnahme unter den Voraussetzungen des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB offen. Ob ein öffentlicher Auftraggeber die Bereichsausnahme anwenden möchte oder nicht, ist seine Ermessenentscheidung. Die entsprechenden Erwägungen in Bezug auf die Anwendung der Bereichsausnahme sind dabei umfassend in einem Vergabevermerk zu dokumentieren.

Die Entscheidung des OLG Düsseldorf zugunsten der Bereichsausnahme ermöglicht es Trägern, das Gesamtsystem der Gefahrenabwehr und das insoweit verknüpfte Ehrenamt künftig zu stärken. Dies betrifft v.a. die Hilfsorganisationen, die einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz erzeugen.

Mit der – vom EuGH vom 21.03.2019 (Rs. C-465/17) bestätigten – Bereichsausnahme wollte der Gesetzgeber gerade gemeinnützig anerkannte Hilfsorganisationen stärken, deren Mitwirkung vor allem in den Bereichen Gesundheitswesen und Gefahrenabwehr einen Mehrwert für das Gesamtsystem ergibt. Entsprechende Aufträge sollten nicht mehr zwingend einem vergaberechtlichen GWB-Verfahren unterworfen sein. So berücksichtigten Ausschreibungen bislang oft den wichtigen Teil der für Großschadenslagen relevanten Aufwachskapazitäten (Schnelleinsatzgruppen, Ressourcen für den Bevölkerungsschutz etc.) nur unzureichend.

Im Rahmen eines einheitlichen Gesamtsystems kann Gefahrenabwehr keine rein staatliche und hauptamtliche Aufgabe sein. Dies haben die Ereignisse im Zuge der Flüchtlingskrise im Jahr 2015, die Flutkatastrophe im Ahrtal sowie die mit der Corona-Pandemie verbundenen Herausforderungen deutlich bestätigt. Diese wären nicht allein durch staatliche Strukturen zu stemmen gewesen. Vor diesem Hintergrund soll der gesundheitlichen Bevölkerungsschutz ganzheitlich betrachtet werden. Hauptamtliche Tätigkeit und ehrenamtliche Aufwachskapazitäten sind im Gesamtsystem zu betrachten. Es ist sicherzustellen, dass die Hilfsorganisationen (als Auxiliare) auch in Friedenszeiten ihre völkerrechtlich geschützten Strukturen unterhalten und ausbauen können. Die Verdrängung aus Rettungsdienst und Krankentransport hat in der Praxis an bestimmten Stellen sogar zu einem signifikanten Abbau der Gefahrenabwehr im Bevölkerungsschutz geführt.

Mit der Klarstellung durch das OLG Düsseldorf sind die Aufgabenträger nunmehr in der Lage, anhand ihrer Auswahlentscheidung langfristig Anreize für eine gute Aufstellung der ehrenamtlichen Aufwachskapazitäten zu setzen.

Autor/innen

Karin Deichmann

Dr. Karin Deichmann

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René M. Kieselmann

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Mathias Pajunk

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