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27.07.2018

Anspruch auf bezahlte Freistellung bei Arztbesuchen

Bezahlte Freistellung, wenn der Arztbesuch nicht anders gelegt werden kann.

LAG Niedersachsen, Urteil v. 08.02.2018 - 7 Sa 256/17 Der Kläger war bei der Beklagten als Klima- und Lüftungsmonteur beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fanden die Bestimmungen des jeweils gültigen Tarifvertrages des Groß- und Außenhandelsverbands Niedersachen e.V. Anwendung. In § 13 waren verschiedene Ansprüche auf Freistellung von der Arbeit, bspw. bei Eheschließung, Niederkunft der Ehefrau, Tod naher Angehöriger usw. geregelt. Ein Anspruch auf bezahlte Freistellung für den Fall eines Arztbesuches während der Arbeitszeit war dort nicht geregelt. Stattdessen enthielt der Tarifvertrag die Bestimmung, dass die Fälle des § 616 Abs. 1 BGB abschließend geregelt sind. In § 14 des MTV fand sich eine Bestimmung, dass dem Arbeitnehmer in allen anderen Fällen unverschuldeter Arbeitsversäumnis das Entgelt nur für die unumgänglich notwendige Abwesenheit, höchstens jedoch für die Dauer von 4 Stunden, gezahlt wird. Der Kläger nahm am 26.04.2016 in der Zeit von 10:15 Uhr bis 11:45 Uhr einen Arzttermin bei einem Facharzt für Orthopädie war. Die regelmäßige Arbeitszeit des Klägers dauerte von 7:15 Uhr bis 16:15 Uhr. Der Orthopäde bescheinigte dem Kläger, dass der letzte Sprechstundentermin um 15:00 Uhr gewesen wäre. Zwischen den Parteien war darüber hinaus unstreitig, dass der Kläger keinen Arzttermin außerhalb der betrieblichen Arbeitszeit erhalten konnte. Die Beklagte zahlte dem Kläger das Gehalt nicht für die Dauer des Arztbesuches.

Auf die Klage wies das Arbeitsgericht die Klage ab, das LAG Niedersachsen hingegen gab dem Kläger Recht.

Nach Auffassung des LAG Niedersachen ist ein Arztbesuch nicht bereits dann notwendig, wenn der behandelnde Arzt den Arbeitnehmer während der Arbeitszeit zur Behandlung oder Untersuchung in seine Praxis bestellt. Der Arbeitnehmer muss vielmehr versuchen, die Arbeitsversäumnis möglichst zu vermeiden. Soweit der Arzt außerhalb der Arbeitszeit Sprechstunden abhält und keine medizinischen Gründe für einen sofortigen Arztbesuch vorliegen, muss der Arbeitnehmer nach Ansicht des LAG Niedersachsen die Möglichkeit der Sprechstunde außerhalb der Arbeitszeit wahrnehmen. Ein Fall unverschuldeter Arbeitsversäumnis bei einem Arztbesuch liegt hingegen dann vor, wenn der Arbeitnehmer von einem Arzt zu einer Untersuchung oder Behandlung einbestellt wird und der Arzt auf terminliche Wünsche des Arbeitnehmers keine Rücksicht nehmen will oder kann. So war es im vorliegenden Fall. Durch die Bestätigung des Arztes, dass die letzte Sprechstunde um 15:00 Uhr gewesen wäre, stand fest, dass der Arbeitnehmer, gleichgültig wann, einen Arzttermin außerhalb seiner Arbeitszeit nicht hätte erhalten können. Nebenbei stand die Regelung im MTV dem Anspruch nicht entgegen, weil das Arbeitsgericht zur Auffassung kam, dass die Regelung in § 13 MTV nicht einschlägig sei und vielmehr nach § 14 für Fälle unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit zumindest die Zeit das Arztbesuches gezahlt werden müsste.

Folgen für die Praxis:

Die Entscheidung zeigt zunächst einmal zweierlei. Grundsätzlich kann ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlte Freizeit haben, wenn er während der Arbeitszeit einen Arzt aufsuchen muss. Dies entspricht auch der bisherigen, schon etwas älteren Rechtsprechung des BAG. Unverschuldet und notwendig ist dies immer dann, wenn eine sofortige Behandlung unumgänglich ist. Das LAG Niedersachsen hatte dies nicht zu prüfen; hätte aber der Arbeitnehmer beispielsweise starke Zahnschmerzen gehabt, wäre u.U. ein Aufsuchen des Arztes während der Arbeitszeit schon aus diesem Grunde unumgänglich gewesen. Bei akuten Erkrankungen kommt es im Regelfall auf die Frage der Terminierung nicht an. Soweit der Arzt generell keine Sprechstunden außerhalb der Arbeitszeit des Arbeitnehmers anbietet, wird man auch während der Arbeits-zeit bezahlt freizustellen haben. Das Gleiche gilt, wenn vorübergehend kein Termin außerhalb der Arbeitszeit möglich, die medizinische Behandlung aber zwingend erforderlich ist. Die Entscheidungen sind offenbar vor dem Hintergrund getroffen worden, dass die Inanspruchnahme des jeweils behandelnden Arztes aus Sicht des Gerichtes sachgerecht war. Es lassen sich durchaus auch Fälle denken, bspw. wenn der Arbeitnehmer erstmals einen anderen Arzt aufsuchen will, bei denen man die Frage stellen kann, ob dann dem Arbeitnehmer nicht zugemutet werden kann, einen anderen Arzt aufzusuchen, der bspw. auch Termine außer-halb der Arbeitszeit, bspw. für Berufstätige vergibt. Dies wird aber der Ausnahmefall sein.

Der Fall zeigt auf, auch wenn es um die Anwendung eines Tarifvertrages ging, wie wichtig es ist, sollte ein Tarifvertrag keine Anwendung finden, die Fragen individualvertraglich zu regeln. § 616 Abs. 1 BGB ist in weiten Teilen abdingbar, d.h. einer vertraglichen Sonderregelung, abweichend vom Gesetz zugänglich.

Autor/innen

Michael Wahl

Michael Wahl

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