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04.01.2016

Erfordernis der Sozialauswahl bei Weiterbeschäftigung eines Teils der Arbeitnehmer im Schwesterunternehmen

Die beklagte Arbeitgeberin betrieb ein Unternehmen des Speditions- und Transportgewerbes. Die klagende Arbeitnehmerin war bei der Beklagten als Speditionskauffrau angestellt. Die Beklagte unterhielt in ihrem Betrieb fünf Geschäftsbereiche.

Eine Sozialauswahl muss auch dann erfolgen, wenn der Arbeitgeber zwar allen Arbeitnehmern seines Betriebes kündigt, jedoch einem Teil zugleich im Zusammenwirken mit einem Schwesterunternehmen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses anbietet, ohne dass in diesem Fall die ausgesprochene Kündigung irgendwelche weiteren Folgen für den rechtlichen und sozialen Bestand des Arbeitsverhältnisses haben soll.

BAG, Urteil v. 21.05.2015 – 8 AZR 499/13 

Die beklagte Arbeitgeberin betrieb ein Unternehmen  des Speditions- und Transportgewerbes. Die klagende Arbeitnehmerin war bei der Beklagten als Speditionskauffrau angestellt. Die Beklagte unterhielt in ihrem Betrieb fünf Geschäftsbereiche. Die fünf Geschäftsbereiche hatten jeweils einen oder mehrere Disponenten zur Planung der Verkehre und jeweils eine eigene Kostenstelle. Die Beklagte beschloss am 06.12.2010 den gesamten Betrieb zum Jahresende stillzulegen. Durch Vereinbarung vom 13.12.2010 sollten dann aber auf Grund neuer Gegebenheiten zwei der Geschäftsbereiche auf ein Schwesterunternehmen übertragen werden. Der Vereinbarung war eine Liste mit namentlich benannten Arbeitnehmern beigefügt. Die Schwestergesellschaft sollte nach der Vereinbarung in die Rechte und Pflichten der aufgelisteten Arbeitnehmer eintreten. Diesen Arbeitnehmern gegenüber wurde in einem Unterrichtungsschreiben erklärt, dass die Arbeitsverhältnisse ungeachtet der ausgesprochenen Kündigungen gemäß § 613 a) BGB fortgeführt würden. Allen Arbeitnehmern des Betriebes wurde dann gekündigt. Die Klägerin, die keinem der beiden übertragenen Geschäftsbereiche angehörte, erhob Kündigungsschutzklage.

Das LAG hatte die Kündigungsschutzklage noch abgewiesen. Das BAG hob die Entscheidung jedoch auf und verwies zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das LAG zurück.

Das BAG führte zunächst aus, dass die ausgesprochene Kündigung überhaupt nur dann sozial gerechtfertigt sei, wenn sich die geplante Maßnahme als eine Betriebsstilllegung und nicht als Betriebsübergang darstelle. Betriebsstilllegung und Betriebsübergang schlössen sich zwingend aus. Das BAG lehnte dann das Vorliegen eines Betriebsübergangs ab. Insofern seien nur zwei von fünf Geschäftsbereichen, weniger als die Hälfte des Personals und nur Betriebsmittel von untergeordneter Bedeutung übertragen worden. Ein Betriebsteilübergang scheitere daran, dass die einzelnen „Geschäftsbereiche“ nicht als übergangsfähige Betriebsteile anzusehen seien. In den einzelnen Geschäftsbereichen seien Führungs- und Organisationsstrukturen nicht in ausreichendem Maße vorhanden.

Der Entschluss, den Betrieb stillzulegen, habe auch auf Grund der von der Beklagten ergriffenen Maßnahmen die nötigen „greifbaren Formen“ angenommen.

Entgegen der Entscheidung des LAG entfällt nach dem BAG allerdings nicht die Notwendigkeit einer Sozialauswahl, nur weil die Beklagte allen Arbeitnehmern gekündigt hat. Denn bei Ausspruch der Kündigung habe die Beklagte nicht mehr geplant, den gesamten Betrieb stillzulegen, sondern es sollte ein Teil der Belegschaft übertragen werden. Gegenüber den in der Übernahmevereinbarung mit der Schwestergesellschaft aufgelisteten Arbeitnehmern sollten die ausgesprochenen Kündigungen keine Wirkung entfalten. Denn entweder – darauf deute das Unterrichtungsschreiben – habe ein Betriebsteilübergang vorgelegen und die Kündigungen seien deshalb unwirksam oder aber es gelte, dass die Schwestergesellschaft für den Fall eines fehlenden Betriebsteilübergangs erklärt habe, die Arbeitnehmer in jedem Fall übernehmen zu wollen. Deshalb hätte eine Sozialauswahl vorgenommen werden müssen, was aber nicht geschehen sei. Das bloße Fehlen einer Sozialauswahl führt nach dem BAG aber nicht zur Unwirksamkeit der angegriffenen Kündigung. Die Kündigung sei nur dann unwirksam, wenn eine nicht vertretbare Auswahlentscheidung getroffen wurde. Das müsse das LAG noch aufklären. 

Praxistipp:

Das Urteil des BAG verlangt vom Arbeitgeber Achtsamkeit bei Umstrukturierungen. Das Urteil bezieht sich vom zugrunde liegenden Sachverhalt nur auf den Fall der Übernahme eines Teils der Arbeitsverhältnisse durch ein verbundenes Unternehmen. Die Argumentation des BAG lässt sich jedoch ohne Weiteres auch auf Sachverhalte übertragen, in denen Veräußerer und Erwerber nicht gesellschaftsrechtlich verbunden sind. Liegt keine Betriebsübergangskonstellation vor, wirken Veräußerer und Erwerber aber über die bloße Übertragung von Betriebsmitteln hinaus zusammen, etwa mit Vereinbarungen zur Übernahme bestimmter Arbeitnehmer, wird eine Sozialauswahl vor dem Ausspruch von Kündigungen nötig sein. Als möglicher Rettungsanker für Arbeitgeber als Veräußerer bleibt jedoch, dass zumindest eine vertretbare Auswahlentscheidung bezüglich der übergehenden Arbeitnehmer vorliegt. Auf Grund des bestehenden Wertungsspielraums des Arbeitgebers bei der Sozialauswahl können sich nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer mit Erfolg auf eine Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl berufen. 

Authors

Martin Greßlin

Dr. Martin Greßlin

Partner

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