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02.08.2016

Knapp EUR 3 Mrd. Geldbuße gegen LKW-Hersteller-Kartell – Schadensersatzforderungen von bis zu EUR 90 Mrd. könnten folgen

Die Europäische Kommission hat am 19. Juli 2016 gegen die führenden LKW-Hersteller MAN, Volvo/Reno, Daimler, Iveco und DAF Rekordbußgelder in Höhe von insgesamt EUR 2,93 Mrd. wegen verbotener Preisabsprachen verhängt. 1. Das „LKW-Hersteller-Kartell“

Die Europäische Kommission hat am 19. Juli 2016 gegen die führenden LKW-Hersteller MAN, Volvo/Reno, Daimler, Iveco und DAF Rekordbußgelder in Höhe von insgesamt EUR 2,93 Mrd. wegen verbotener Preisabsprachen verhängt. Das Bußgeldverfahren gegen die VW-Tochter Scania, die anders als die zuvor genannten Unternehmen keinen Vergleich mit der Kommission geschlossen hat, läuft noch. MAN ging als Kronzeuge straffrei aus. Zusätzlich zu den Bußgeldern drohen den am Kartell beteiligten Herstellern nun noch enorme Schadensersatzforderungen.

2. Kartellabrede und Organisation

Nach den Feststellungen der Kommission haben die Hersteller von 1997 bis 2011 für den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum Listenpreise für mittlere (Gewicht 6 bis 16 t) und schwere (über 16 t) LKW abgesprochen. Daneben koordinierten sie den Zeitplan für die Einführung neuer Umwelttechnik und die Weitergabe der damit verbundenen Kosten an die Abnehmer.Nach bisher unbestätigten Angaben sollen die Listenpreise, die Ausgangspunkt für die Bestimmung der jeweiligen Kauf- und Leasingpreise in der Branche sind, bis zu 20% über dem tatsächlichen Marktpreis gelegen haben.

Die Absprachen erfolgten laut Pressemitteilung der Kommission in den ersten sieben Jahren meist telefonisch auf höchster Konzernebene oder im Rahmen von Branchentreffen. Um das Jahr 2004 organisierte sich das Kartell durch elektronische Benachrichtigungen zwischen den deutschen Tochtergesellschaften. Die im Rahmen umfangreicher Durchsuchungen sichergestellten Beweise scheinen das Kartell nahezu lückenlos bestätigt zu haben.

3. Kronzeugenantrag von MAN

Auslöser für das Verfahren war ein Kronzeugenantrag eines Beteiligten: eine Selbstanzeige von MAN. Soweit bekannt, wurde der Kartellverstoß bei MAN im Rahmen einer internen Untersuchung (sog. Audit) aufgedeckt. Es überrascht, dass das Kartell jahrelang unter dem Radar der Compliance-Abteilungen der Lkw-Hersteller agieren konnte.

Nach den Leitlinien der Kommission und des Bundeskartellamts wird dem originären Kronzeugen, also demjenigen, der die Wettbewerbsbehörde erstmals von dem Kartell in Kenntnis setzt, das auf ihn entfallende Bußgeld vollständig erlassen. Hierfür muss der Kronzeuge einen Antrag bei der Wettbewerbsbehörde stellen. Darin muss das Kartell ausführlich dargestellt und entsprechend belegt werden. Nur wenn der Kronzeuge alle ihm bekannten Verstöße und Tatsachen offenlegt, bleibt er vollständig von einem Bußgeld befreit.

Auch die übrigen Teilnehmer des Kartells können im Nachgang einen Antrag auf Verringerung des Bußgelds stellen. Ihnen gewährt die Wettbewerbsbehörde dann – je nach zeitlicher Reihenfolge des Eingangs der Anträge – eine prozentuale Ermäßigung. Wie hoch diese tatsächlich ausfällt, hängt ab vom Zeitpunkt der Vorlage der Beweismittel und deren Mehrwert. In den meisten Fällen werden dem ersten Kartellanten, der nach dem Kronzeugen die Vorwürfe eingesteht und vollumfänglich mit der Kommission kooperiert, zwischen 40 und 50% des Bußgelds, dem zweiten nur noch zwischen 20 und 40% erlassen. Es ist daher nach einer Durchsuchung der Kartellbehörden extrem wichtig, frühzeitig zu prüfen, welche Beweise der Wettbewerbsbehörde vorliegen und zu entscheiden, wie sich das Unternehmen strategisch verhalten will, das heißt ob es die Tat eingesteht und kooperiert – oder ob es sich gegen die Vorwürfe verteidigen will.

Im „Lkw-Hersteller-Kartell“ hat die Kommission MAN als Kronzeugen ein Bußgeld in Höhe von ca. EUR 1,2 Mrd. vollständig erlassen. Bei Volvo/Reno (40%), Daimler (30%) und Iveco (10%) wurde das Bußgeld ermäßigt.

4. Beendigung der Verfahren durch „Settlement“

Volvo/Renault, Daimler, Iveco und DAF haben mit der Kommission verfahrensbeendende Vergleiche abgeschlossen, wodurch gegen diese Unternehmen die Kartellverstöße rechtskräftig festgestellt sind. Allein Scania hat keinen Vergleich mit der Kommission abgeschlossen und bestreitet einen Großteil der Vorwürfe.

Ob ein Kartellverfahren durch einen Vergleich beendet werden kann, obliegt ausschließlich dem Ermessen der jeweiligen Wettbewerbsbehörde. Sowohl die Kommission als auch das Bundeskartellamt machen regelmäßig von diesem Instrument Gebrauch. Mit dem Vergleich erkennen die Unternehmen die Vorwürfe der Wettbewerbsbehörde an und erhalten im Gegenzug eine weitere Ermäßigung des Bußgelds in Höhe von 10%. Einen Anspruch auf den Abschluss eines Vergleichs hat ein Unternehmen nicht. Ein Vergleich bietet der Kommission die Möglichkeit, ein zeitaufwendiges Kartellverfahren, das bei Inanspruchnahme aller Instanzen zwischen sieben und zwölf Jahren dauern kann, zügig zu beenden und sofort einen vollstreckungsfähigen Titel gegen die Unternehmen zu erhalten. Die betroffenen Unternehmen sparen Verteidigungskosten und werden vor weiterer rufschädigender Medienberichterstattung geschützt.

Die Kommission beendet Kartellverfahren allerdings in der Regel nur unter zwei Voraussetzungen durch einen Vergleich: Der Vergleich wird erstens nur geschlossen, bevor den Kartellanten die Vorwürfe der Kommission in schriftlicher Form (Beschwerdemitteilung) zugehen. Zweitens müssen alle beteiligten Unternehmen dem Vergleich zustimmen. Von diesen beiden Prinzipien ist die Kommission beim „Lkw-Hersteller-Kartell“ jedoch ausnahmsweise abgewichen. Denn die Vergleiche wurden erst nach Übersendung der Beschwerdemitteilung abgeschlossen und die VW-Tochter Scania stimmte als einziges Unternehmen einer vergleichsweisen Beendigung nicht zu. Weshalb die Kommission von ihrem sonstigen Vorgehen abgewichen ist, ist nicht bekannt. Zu vermuten ist, dass die Kommission im vorliegenden Fall vermeiden wollte, ihre Bußgeldleitlinien anzuwenden. Denn die Bußgeldleitlinien enthalten eine abstrakte Rechenformel und Vorgehensweise nach der die Kommission das konkrete Bußgeld bestimmt. Maßgeblich sind insbesondere Tatumsatz (Umsatz mit den vom Kartell erfassten Waren), die schwere des Verstoßes und die Dauer des Kartells. Die Kommission steht zwar in vielen dieser Punkte ein gewisses Ermessen zu, dennoch ist sie bei der formalen Festlegung des Bußgelds per Beschluss an die selbstauferlegte Berechnungsmethode gebunden. Dies ist bei einem Vergleich aber gerade nicht der Fall.

Nach dem Gesetz darf die Kommission maximal ein Bußgeld verhängen, das 10% des weltweiten Jahresgesamtumsatzes des gesamten Konzerns (unter Berücksichtigung aller Güter) ausmacht. Die Kommission stand daher möglicherweise vor dem Problem, dass es sich bei den vorgenommenen Absprachen – im Vergleich zu anderen Kartellen – nicht um die denkbar schwersten Verstöße handelte. Auf der anderen Seite erfasste die Absprache örtlich den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum, dauerte vierzehn Jahre an und bei den vom Kartell betroffenen Lkws handelt es sich um hochpreisige Güter. Diese Umstände und die Berechnungsmethode der Bußgeldleitlinien hätten vermutlich dazu geführt, dass alle Kartellanten automatisch die Höchstbuße erhalten hätten. Dies wollte die Kommission möglicherweise umgehen. Denn die Berechnungsmethode der Bußgeldleitlinie ist gerade aus diesem Grund nicht unumstritten.

Durch die Anwendung von verschieden Multiplikationen errechnet die Kommission regelmäßig Beträge, die weit über der gesetzlichen Höchstgrenze liegen können. Ist dies der Fall „kappt“ die Kommission dann das von ihr „errechnete“ Bußgeld bei der gesetzlich zulässigen Höchstgrenze. Diese Berechnungsmethode der Kommission ist in den letzten Jahren stark kritisiert worden, da sie in vielen Fällen zur Verhängung der gesetzlichen Höchstbuße führt, unabhängig davon, wie schwer der Verstoß gewesen ist. Das Bundeskartellamt hat aufgrund einer Entscheidung des BGH diese Art der Bußgeldberechnung aufgegeben und im Jahr 2013 neue Bußgeldleitlinien veröffentlicht. Diese sehen eine abweichende Berechnungsmethode vor, so dass die gesetzliche 10% Grenze nur auf die Kartelle Anwendung findet, die schwerste Wettbewerbsverletzungen begangen haben. Ob die Kommission auch in Zukunft an ihren jetzigen Bußgeldleitlinien festhalten wird, bleibt abzuwarten.

5. Schadensersatzforderungen und Regressansprüche gegen frühere Vorstände

Nach dem deutschen und europäischen Kartellrecht hat jeder der durch das Kartell geschädigt worden ist, einen Anspruch auf Schadensersatz. Dieser Anspruch besteht völlig unabhängig neben den verhängten Bußgeldern, sogar – wenn auch eingeschränkt – gegen den Kronzeugen. Die ausstehenden Schadensersatzforderungen dürften die verhängten Bußgelder um ein Vielfaches übersteigen. Nach unbestätigten Angaben schätzen Branchenkundige den durch das Kartell weltweit verursachten Schaden auf ca. auf EUR 50 bis 90 Milliarden.

Die am Kartell beteiligten und schadensersatzpflichtigen Unternehmen selbst werden prüfen müssen, ob sie ihrerseits von den Personen, die die Absprachen getroffen haben (z. B. die damaligen Vorstände), Regress fordern können. Auch wenn mittlerweile die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung in ähnlich gelagerten Fällen einen Regressanspruch der am Kartell beteiligten Unternehmen gegen die handelnden Personen (Geschäftsführer) bzgl. der verhängten Bußgelder verneint hat (LAG Düsseldorf, 20.01.2015 - 16 Sa 459/14), steht eine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Frage noch aus. Daneben könnten die früheren Vorstände und Geschäftsführer der Kartellanten für etwaige Schadensersatzforderungen der Abnehmer den am Kartell beteiligten Unternehmen gegenüber haften. Auf die Forderungen der durch das Kartell geschädigten Abnehmer haben diese Fragen aber keine Auswirkung.

Knapp 14 Jahre lang haben Abnehmer der Hersteller zu hohe Preise für gekaufte oder geleaste Lkw gezahlt. Die geschädigten Käufer und Leasingnehmer können nun aufgrund des festgestellten Kartellverstoßes Schadenersatz gegen die Unternehmen geltend machen (dazu siehe: Lkw-Hersteller-Kartell: Käufer und -Leasingnehmer können Schadensersatzersatzansprüche geltend machen). Andernfalls verbleiben die durch das Kartell eingenommenen Milliarden-Gewinne bei den Herstellern. Das Verfahren gegen die Lkw-Hersteller belegt außerdem einmal mehr, welche wirtschaftlichen Folgen es für ein Unternehmen haben kann, wenn es über kein funktionierendes Compliance-System verfügt, um frühzeitig etwaige Kartellverstöße zu verhindern bzw. aufzudecken.