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29.07.2020

Bei beiderseitiger Tarifgebundenheit gelten Tarifverträge unmittelbar

Bei beiderseitiger Tarifgebundenheit gelten Tarifverträge unmittelbar
Bei beiderseitiger Tarifgebundenheit gelten Tarifverträge unmittelbar
Die Klausel eines Tarifvertrags, welche für die individuelle Geltung des Tarifvertrags dessen arbeitsvertragliche Nachvollziehung verlangt, ist unwirksam.

Dies entschied das Bundesarbeitsgericht jüngst im BAG, Urteil vom 14.05.2020, Az. 4 AZR 489/19.

Zum Hintergrund

Die Klägerin ist Mitglied der IG Metall und seit dem 01.09.1999 auf der Grundlage des am 18.06.2002 geschlossenen Arbeitsvertrags bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte – ein Unternehmen, welches Kunden aus der Luft- und Raumfahrtindustrie Werkstoffleistungen anbietet – war zunächst nicht tarifgebunden. Am 15.05.2015 schlossen die Beklagte, die IG Metall und der Unternehmerverband Industrieservice und Dienstleistungen e.V. einen Manteltarifvertrag (im Folgenden: MTV) und einen Entgeltrahmentarifvertrag (im Folgenden: ERTV). In § 37 MTV wurde vereinbart, dass Ansprüche aus dem Tarifvertrag voraussetzen, dass die Einführung des Tarifwerks auch arbeitsvertraglich nachvollzogen wird.

Selbiges wurde wort- und inhaltsgleich in § 8 des ERTV vereinbart. Am 31.03.2016 übersandte die Beklagte der Klägerin einen neuen Arbeitsvertrag. In ihm waren neben der tarifvertraglich vorgegebenen Bezugnahmeklausel weitere, vom bis dahin geltenden Arbeitsvertrag abweichende Arbeitsbedingungen aufgenommen. Die Klägerin strich einige Klauseln durch, darunter die Bezugnahmeklausel, und unterschrieb den neuen Arbeitsvertrag. Unter dem Datum des 04.07.2016 und 10.10.2016 machte die Klägerin anschließend gegenüber der Beklagten Forderungen auf Grundlage des MTV und ERTV geltend.

Die Beklagte lehnte die geltend gemachten Ansprüche ab. Hierauf erhob die Klägerin Klage vor dem Arbeitsgericht, welches den geltend gemachten Zahlungsanspruch teilweise zuerkannte. Nach Ansicht des Arbeitsgerichts stehe die Tatsache, dass die Klägerin den neuen Arbeitsvertrag mit der Bezugnahmeklausel nicht unterschrieben habe, Ansprüchen aus dem MTV sowie aus dem ERTV nicht entgegen. Ob § 37 MTV sowie § 8 ERTV gegen das in § 4 Absatz 3 Tarifgesetz (TVG) normierte Günstigkeitsprinzip verstoßen, könne dahingestellt bleiben, da sich die Beklagte bereits aus § 162 BGB nicht darauf berufen könne, dass der Tarifvertrag nicht arbeitsvertraglich vollzogen wurde, da die Beklagte gegenüber der Klägerin nicht nur die Vereinbarung der Bezugnahmeklausel, sondern gleich den Abschluss eines ganzen Arbeitsvertrages verlangt habe, der für die Klägerseite über die Bezugnahmeklausel hinaus negative Veränderungen enthalten habe.

Die hiergegen eingelegte Berufung hatte Erfolg. Nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts seien die Parteien zwar an die Tarifverträge gemäß § 3 Absatz 1 TVG gebunden. Ihnen käme aber nicht die in § 4 Absatz 1 Satz 1 TVG angeordnete unmittelbare Wirkung zu. Zwar wirken die Regelungen eines Tarifvertrages gemäß §§ 1 Absatz 1, 4 Absatz 1 TVG unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis ein, das heißt, dass die Tarifinhalte automatisch gelten, also unabhängig von einem Willensakt der tarifgebundenen Arbeitnehmer/innen.

Diese Wirkung sei von den Tarifvertragsparteien aber ausweislich der § 37 MTV, § 8 ERTV nicht gewollt, so dass wirksam darauf verzichtet worden sei. Dies sei auch rechtlich wirksam, da § 4 Absatz 3 Alt. 1 TVG vorsehe, dass die Tarifvertragsparteien von ihren Tarifnormen abweichende Abmachungen – zum Beispiel durch einen Individualvertrag ­– gestatten können. Dies bedeute nicht nur, dass Tarifparteien auf die zwingende Wirkung, sondern auch auf die unmittelbare Wirkung der Tarifnormen verzichten können. Schranken des Tarifrechts würden dadurch nicht überschritten. Der Ansicht des Arbeitsgerichts, wonach der Tarifvertrag für die Klägerin wegen § 162 BGB Wirkung entfalte, könne ebenfalls nicht gefolgt werden. Die hiergegen eingelegte Revision hatte Erfolg.

Das Ergebnis des Urteils

Nach Ansicht des BAG reiche allein die beiderseitige Tarifgebundenheit nach § 4 Absatz 1 TVG aus, um Ansprüche aus den Tarifverträgen zu vermitteln. Diese unmittelbar und zwingend durch Tarifnorm begründeten Ansprüche wären nicht von einer arbeitsvertraglichen Umsetzung abhängig. Eine Regelung im Tarifvertrag, die eine solche zusätzliche Voraussetzung definiere, sei unwirksam. Sie liege außerhalb der tariflichen Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien. Zudem sei durch die Klausel einer „arbeitsvertraglichen Nachvollziehung“ ohnehin gegen das in § 4 Absatz 3 TVG normierte Günstigkeitsprinzip verstoßen worden.

Der bislang lediglich erschienenen Pressemitteilung des BAG ist zu entnehmen, dass bei beiderseitiger Tarifgebundenheit Tarifnormen stets und unmittelbar kraft Gesetzes (§ 4 Absatz 1 TVG) Wirkung entfalten und diesbezüglich keine weiteren Voraussetzungen tarif- oder individualvertraglich geschaffen werden dürfen (beziehungsweise müssen).

Auch eine nähere Erläuterung zur Wertung des BAG, wonach das Erfordernis einer Bezugnahmeklausel gegen das in § 4 Absatz 3 Alt. 2 TVG enthaltene Günstigkeitsprinzip verstoße, steht somit noch aus.

Für tarifgebundene Arbeitgeber ist jedoch bereits jetzt klar, dass künftig mit der Einführung eines neuen Tarifvertrags die gleichzeitige Einführung neuer Arbeitsverträge erschwert wird, beziehungsweise die Geltung des Tarifvertrags nicht weiter an den Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags geknüpft werden kann. Für Arbeitnehmer hingegen dürfte das Urteil Vorteile mit sich bringen, da diese für die Geltung eines Tarifvertrags keinen neuen Arbeitsvertrag mit – aus Arbeitnehmersicht – gegebenenfalls enthaltenen Verschlechterungen zu akzeptieren brauchen.